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Erste Reinigungsstufe einer Kläranlage
Eigentümer
© IMAGO / Rupert Oberhäuser
Ran an die Spurenstoffe
Der Bauingenieur Henning Knerr perfektioniert Techniken für Kläranlagen, mit denen sich umweltgefährdende synthetische Substanzen – Schmerzmittel oder Röntgenkontrastmittel – aus dem Abwasser entfernen lassen.
Im Vorklaerbecken setzen sich die organischen Schlaemme ab. Das Abwasser fliesst danach ueber eine Zahnschwelle. 

Der nächste Schritt der Abwasserbehandlung: Spurenstoffe eliminieren

Kläranlagen erfüllen eine wichtige Aufgabe. Sie reinigen das Abwasser, bevor es zurück in den natürlichen Wasserkreislauf geleitet wird. Das, was sie jetzt können, reicht jedoch nicht, denn es schlüpfen viele umweltschädliche Stoffe durch. Wie sich diese noch besser als bisher entfernen lassen, erforscht der Bauingenieur Henning Knerr. Kurz gesagt: Die vierte Stufe macht es möglich.

Die Abwasserbehandlung in Kläranlagen ist derzeit in der Regel in drei Stufen unterteilt. Los geht es mit der mechanischen Reinigung, die alles Grobe wie Essensreste, Toilettenpapier, Laub, Steinchen, Sand und Fette entfernt. Danach folgen die biologische und chemische Behandlung, die sich der Kohlenstoffverbindungen sowie der Nährstoffe Stickstoff und Phosphor annehmen. Jedoch ist die dreistufige Reinigung nicht perfekt. Eine Gruppe von Stoffen schlüpft durch – und gelangt so in die Gewässer. Es sind die Spuren- oder Mikroschadstoffe.

Sie heißen so, weil sie in sehr geringen Konzentrationen vorkommen, Konzentrationen von unter ein Mikrogramm pro Liter. Ein Mikrogramm ist der Millionstel Teil eines Gramms. Es handelt sich um künstlich hergestellte und natürliche Stoffe, die es in sich haben. Das Schmerzmittel Diclofenac, das bei Gelenkerkrankungen Linderung verspricht. Das Kontrastmittel Amidotrizoesäure, das beim Röntgen zum Einsatz kommt. Der synthetische Duftstoff HHCB, Bestandteil von Kosmetika und Körperpflegemitteln. Das Insektenabwehrmittel Diethyltoluamid, mit dem wir uns Stechmücken vom Laib halten. Das Korrosionsschutzmittel Benzotriazol, das in Spülmaschinentabs enthalten ist. Diese und viele andere Stoffe werden in der herkömmlichen Abwasserreinigung nicht oder nicht ausreichend entfernt. Bei Diclofenac sind es zum Beispiel weniger als 25 Prozent. Und nahezu unbeschadet übersteht Amidotrizoesäure die dreistufige Behandlung.

Herzrasen bei Fischen

Der Chemie-Cocktail, der letztlich in den Gewässern landet, ist gefährlich. „Auch in Minikonzentrationen können Spurenstoffe Pflanzen und Tieren schaden – und zwar über lange Zeiträume“, so Henning Knerr vom Institut Wasser-Infrastruktur-Ressourcen (WIR). Denn Benzotriazol, Diethyltoluamid und andere Spurenstoffe werden im Wasser nur schwer oder gar nicht abgebaut. Zudem breiten sie sich mit dem Wasserstrom aus und können so überall Schaden anrichten. Bekannt ist, dass Herbizide oder Unkrautbekämpfungsmittel die Photosynthese von Algen hemmen. Schmerzmittel schädigen die inneren Organe von Fischen, zum Beispiel die Kiemen. Und künstliche Süßstoffe stehen im Verdacht, ihr Nervensystem zu stören, so dass ihr Herz schneller schlägt. Auch für uns Menschen können Spurenstoffe ein Gesundheitsrisiko darstellen, da sie über die Gewässer ins Trinkwasser gelangen können.

Deswegen hat die EU eine neue Kommunalabwasserrichtlinie (KARL) erlassen, die eine zusätzliche vierte Behandlungsstufe für Kläranlagen vorschreibt. Eine Reinigungsschritt, der sich speziell die Spurenstoffe vornimmt. Mit Stufe 4 beschäftigen sich Knerr und das WIR-Team schon viele Jahre. Sie erforschen, testen und verbessern Verfahren zur Spurenstoff-Elimination. „Es gibt drei bereits gut funktionierende Grundmechanismen“, erklärt der promovierte Bauingenieur. Chemische Oxidation mit Ozon (O3), Adsorption mit Aktivkohle und die physikalischen Verfahren Nanofiltration und Umkehrosmose. Oxidation und Adsorption sind in einigen Kläranlagen schon im Einsatz, etwa in Baden-Württemberg. Die physikalischen Verfahren noch nicht, da sie zu teuer sind. Daher konzentrieren sich Knerr und das WIR-Team auf Oxidation sowie Adsorption und entwickeln diese beiden Verfahren weiter.

Kleine Körner, große Wirkung

Grundsätzlich funktioniert die Ozonung so, dass Ozon in den Abwasserstrom gegeben wird. „Die Spurenstoffe werden dadurch teiloxidiert, also chemisch verändert“, so Knerr. „Sie spalten sich in kleinere Moleküle auf und verlieren ihre ursprüngliche Wirkung.“ Mit der Ozonung allein ist es aber nicht getan. Die dabei gebildeten Oxidationsprodukte müssen anschließend nochmal biologisch abgebaut werden. Zudem ist Vorsicht geboten: Bei manchen Spurenstoffen entstehen durch Ozonung neue unerwünschte Stoffe, die eventuell eine noch schädlichere Wirkung haben als die Ausgangsstoffe.

Bei der Adsorption kann so etwas nicht passieren, weil die Spurenstoffe chemisch unverändert bleiben. Stattdessen fließt das Abwasser durch ein Aktivkohlebett. Aktivkohle ist speziell behandelte Braun- oder Steinkohle in Körnchenform. Auch Kokosnussschalen, Obstkerne oder Holz eignen sich als Ausgangsmaterial dafür. Das Besondere an den Körnchen ist ihre Porosität: Unzählige winzige Kanäle und Risse durchziehen das Innere. So hat ein kleines Körnchen eine riesige Oberfläche: Die Gesamtoberfläche von nur vier Gramm Aktivkohle entspricht der Fläche eines Fußballfelds. Auf die Spurenstoffe üben die Körnchen eine große Anziehungskraft aus. Sie docken, während das Abwasser durchs Kohlebett fließt, nach und nach daran an. Bis die Aktivkohle mit ihren Tausenden von Mikro-Hohlräumen damit beladen ist und ausgetauscht wird. So lässt sich das Abwasser von Spurenstoffen befreien.

„Alle Verfahren haben Breitbandwirkung, sie beseitigen jeweils viele Spurenstoffe auf einmal“, ordnet Knerr ein. Wobei die einen Stoffe besser oxidativ, die anderen besser adsorptiv entfernt werden. Die Ozonung schafft zum Beispiel rund 95 Prozent des Schmerzmittels Diclofenac, die Adsorption rund 80 Prozent. Einige Spurenstoffe erweisen sich aber als sehr hartnäckig. Der Amidotriezoesäure kann weder Ozon noch Aktivkohle etwas anhaben. Ähnlich ist es bei Melamin, das in Beschichtungen, Kleb- und Dichtstoffen sowie Wasch- und Reinigungsmitteln steckt. Perfluoroctansulfonsäure (PFOS) wiederum wird zwar ordentlich adsorbiert, aber schlecht oxidiert. PFOS, Bestandteil von Feuerlöschschäumen, gelangt bei Großbränden in größeren Mengen ins Abwasser.

Die Lücke schließen

Das WIR-Team versucht, die Widerständler unter den Spurenstoffen mit neuen Ansätzen in den Griff zu bekommen. Auf der Pilotanlage der Kläranlage Worms wird die erweiterte Oxidation getestet. Dabei bestrahlt man Abwasser, welchem entweder Ozon oder Wasserstoffperoxid (H2O2) oder beides zudosiert wird, mit ultraviolettem Licht. Dadurch bilden sich vermehrt Hydroxyl-Radikale – spezielle Moleküle, die auch mit chemisch oder biologisch schwer abbaubaren organischen Substanzen reagieren. So findet eine doppelte Umwandlung der Spurenstoffe statt: Durch das eigentliche Oxidationsmittel – Ozon oder Wasserstoffperoxid – und zusätzlich durch die Hydroxyl-Radikale. „So können wir zum Beispiel das Röntgenkontrastmittel Amidotrizoesäure besser eliminieren als mit reiner Ozonung“, sagt Knerr.

Um naturnahe Verfahren geht es auf der Pilotanlage der Kläranlage Landstuhl, wo das WIR-Team Bodenfilter testet. Diese bewachsenen Sandfilter kommen bisher unter anderem bei der Mischwasserbehandlung zum Einsatz. Der Hintergrund: Es gibt zwei Arten der Kanalisation. Die, durch die nur das Schmutzwasser aus Haushalten, Gewerbe oder Industrie fließt. Und Mischkanalisationen, die zusätzlich von den Straßen abfließendes Niederschlagswasser zur Kläranlage transportieren. Die Wassermengen bei Mischwasserzufluss sind größer. Da Kläranlagen nicht alles auf einmal behandeln können, wird es zunächst zwischengespeichert.

Fällt viel Regen und sind die Speicher gefüllt, startet die sogenannte Mischwasserentlastung: Das Mischwasser wird durch einen Überlauf direkt in die Gewässer geleitet – an der Kläranlage vorbei. Dadurch gelangen jedoch auch Spurenstoffe in Flüsse und Seen, die die Kläranlagen sehr gut abbauen könnten, darunter das Schmerzmittel Ibuprofen. Das Team um Knerr entwickelt ein Verfahren, das diese Lücke schließt. Indem man dem Filtersand Aktivkohle beimischt, wird aus zwei Prozessen einer gemacht: Mischwasserbehandlung plus Elimination von Spurenstoffen. Am angereicherten Filtersand kommen kaum Spurenstoffe aus den Überläufen mehr vorbei.

Farbwechsel im Fluss

Bei Knerrs Forschung geht es nicht nur darum, die Verfahren für Stufe 4 zu erweitern und zu perfektionieren. Es geht auch darum, untersuchen zu können, woher die Stoffe kommen, wie sie sich in Gewässern verbreiten – und wieweit die Spurenstoff-Elimination dazu beiträgt, die Belastung in einem Flussgebiet tatsächlich zu reduzieren. Hierfür hat der Bauingenieur das Simulationsmodell „StoffFLUSS“ entwickelt. Es berechnet, wo in einem Gewässer ausgewählte Spurenstoffe in welchen Konzentrationen vorkommen – und wie sich die Konzentration durch Einbau von Stufe 4 verändert.

Was das Modell kann, bewies es bei der Simulation der Diclofenac-Belastung des Flussgebiets der Sauer, einem Moselnebenfluss, der in den belgischen Ardennen entspringt. Zwei Szenarien wurden berechnet. Einmal der Ist-Zustand auf Grundlage der bestehenden Kläranlagen ohne Stufe 4: Einige Gewässerabschnitte waren gelb, orange und rot gefärbt – die Diclofenac-Konzentrationen lagen hier teils deutlich über dem Gewässer-Grenzwert. Im zweiten Szenario wurden einige Kläranlagen virtuell mit einer vierten Stufe  ausgestattet, in diesem Fall mit Ozonung. Die vorher als überbelastet markierten Gewässerabschnitte waren nun grün gefärbt. Der Nachweis, dass der Kläranlagenausbau mit Ozonung die Diclofenac-Belastung massiv senken würde.

Solche Simulationen sind als Handlungsempfehlungen gedacht. Mit „StoffFLUSS“ kann geprüft werden, welches Verfahren den größten Nutzen für die Gewässer bringt. In Zukunft soll das Modell auch die optimale Reihenfolge der Erweiterungen simulieren können, also welche Anlagen zuerst Stufe 4 bekommen sollten. Diese Orientierungshilfen sind mit Blick auf die EU-Richtlinie KARL wichtig, die vorsieht, dass Kläranlagen ab 150.000 Einwohnern und grundsätzlich kommunale Kläranlagen in Gebieten mit zu hoher Spurenstoffbelastung eine zusätzliche vierte Behandlungsstufe einbauen müssen – in abgestuften Zeiträumen bis 2040.

Es wird richtig teuer

Was bedeutet das für Rheinland- Pfalz? Von den insgesamt 660 kommunalen Kläranlagen sind nach jetzigem Stand 65 wegen zu hoher Belastungen im Gewässer um Stufe 4 zu erweitern. Was laut Schätzungen des Landesamts für Umwelt Rheinland-Pfalz (LfU) 600 bis 700 Millionen Euro kosten wird. Auf Rheinland- Pfalz könnten sogar noch viel höhere Investitionen zukommen – sofern die UQN-Richtlinien wie erwartet noch strenger werden. UQN steht für Umwelt-Qualitätsnorm. Diese EU-Richtlinie gibt vor, welche Belastungsgrenzen bei bestimmten Spurenstoffen in Gewässern nicht überschritten werden dürfen. Gut möglich, dass die EU zum Beispiel der Grenzwert für Diclofenac absenkt. Dann müssen mehr als die bislang 65 Kläranlagen nachgerüstet werden.

Der Status quo in puncto Stufe 4 ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben bereits einen Teil ihrer Hausaufgaben gemacht und viele Kläranlagen erweitert. „Im Rest der Republik sieht es eher mau aus“, so Knerr. Viele Länder hätten die EU-Verordnung abgewartet und erst dann mit den Planungen begonnen. In Rheinland-Pfalz sind einige Erweiterungen in Planung, aber noch keine Anlagen mit Stufe 4 in Betrieb. Die eigentliche Arbeit beginnt also erst. Henning Knerr wird sie von wissenschaftlicher Seite begleiten – damit unsere Gewässer in Zukunft von Spurenstoffen verschont bleiben und auch nichts davon ins Trinkwasser gelangt.

Luftaufnahme einer Kläranlage in Rheinland-Pfalz
Eine typische Kläranlage mit kreisrunden Becken. Foto: IMAGO / photothek

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Henning Knerr ist Bereichsleiter Abwasser und Gewässerschutz an der RPTU.
Dr.-Ing.
Henning
Knerr
Bereichsleiter Abwasser und Gewässerschutz
„Unsere Welt verändert sich ständig. Wissenschaft kann dazu beitragen Lösungen zu finden, um negative Effekte zu mindern und positive zu verstärken."
Dr. Henning Knerr forscht insbesondere zu den Themen Spurenstoffe im Abwasser, Technologien zu deren Elimination sowie ihres Verbleibs im urbanen Wasserkreislauf. Er ist Bereichsleiter Abwasserreinigung und Gewässerschutz am Institut WIR und Geschäftsführer von tectraa, Zentrum für innovative Abwassertechnologien. Ebenso leitet der die Beratungsstelle Abwasser Rheinland-Pfalz, eine Kooperation der RPTU mit dem Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie und Mobilität Rheinland-Pfalz.
Forscherprofil aus rptu.de

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Venditti, S.; Kiesch, A.; Brunhoferova, H.; Schlienz, M.; Knerr, H.; Dittmer, U.; Hansen, J. (2022): Assessing the impact of micropollutant mitigation measures using vertical flow constructed wetlands for municipal wastewater catchments in the greater region: a reference case for rural areas. Water Science & Technology 86(1); DOI: https://doi.org/10.2166/wst.2022.191
>> ZUM PAPER

Knerr, H.; Gretzschel, O.; Valerius, B.; Srednoselec, I.; Zhou, J.; Schmitt, Theo G.; Steinmetz, H.; Dittmer, U.; Taudien, Y.; Kolisch, G. (2020): Modellgestützte Bilanzierung von Mikroschadstoffen in Gewässern. In: gwf-Wasser|Abwasser, 3/2020, S. 55-65
>> ZUR VERÖFFENTLICHUNG

SWR Rheinland-Pfalz, Landesschau vom 20. März 2025, Reinigungsverfahren der Kläranlage: Was Sie über die Abwasserqualität wissen sollten.
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von Andreas Lorenz-Meyer
Andreas Lorenz-Meyer ist freischaffender Journalist und lebt in der Pfalz. Er schreibt für Fachzeitungen, die Magazine von Universitäten und Forschungseinrichtungen sowie Tageszeitungen in Deutschland und der Schweiz. Seine thematischen Schwerpunkte im Bereich Wissenschaft sind unter anderem Künstliche Intelligenz, Biologie, Klima, Erneuerbare Energien. Weitere Themenfelder: Energiewirtschaft sowie Hotel- und Tourismuswirtschaft.

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